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Überlegungen zu Memoria und Propaganda am Beispiel romanischer Fassadenreliefs

Von Ulrike Kalbaum

 

Im Klostermuseum von Hirsau befindet sich ein rechteckiges, skulptiertes Fragment mit einer fast lebensgroßen Figur in Hochrelief, die mit angewinkelten Knien, gebeugtem Rücken und zum Gebet erhobener Hand von ihrer linken Seite zu sehen ist. Ihr leicht erhobener Kopf wird von einer Haartracht aus parallel liegenden Wül­sten bedeckt, die über den nicht mehr vorhandenen Ohren enden. Ausgestochene Pupillen in kreisrunden Augen, eine kräftige Nase und eine Kerbe als Mund geben dem länglichen, spitz zulaufenden Gesicht ein starres Aussehen. Eine Tonsur und ein Bart sind nicht zu erkennen. Das unverzierte, bodenlange Gewand, das die Gestalt trägt, weist weder eine Kapuze auf, noch wird es von einem Gürtel gehalten. Während es am Arm eng anliegt, lässt es den Rumpf wie aufgeblasen wirken und legt sich nur auf der Rückseite unterhalb der Knie in vier wulstige Falten. Die Konturen des Körpers wirken dort, wo sie überhaupt zu erkennen sind, anatomisch unbeholfen: Der Hals ist überlängt, und der Oberarm scheint zu fehlen, da der Unterarm direkt in Höhe der Schulter ansetzt.

1 Hirsau frei
Hirsau Klostermuseum: der „betende Mönch“
(Bild: Autorin)

 

Eine vorspringende Rahmenkante zu den – nicht erhaltenen – Füßen des Betenden dient als Standplatte und verbreitert sich zur rechten Seite. Bemerkenswert sind die über den Quaderrand hinausragenden Fingerspitzen der erhobenen Hand. Wegen seines Habitus und seiner erhobenen Hand wird der Dargestellte als „betender Mönch“ bezeichnet.

 

Der Stein ist circa 130 cm hoch, 65 cm breit und 42 (mit dem Relief der Figur 53) cm tief. Neben der bestehenden großen Ausbruchstelle am rückwärtigen Saum des Gewandes wies er bei seiner Auffindung zahlreiche kleinere Ausbrüche und Abstoßungen auf, die teilweise ergänzt und übermalt wurden. Im Gegensatz zu den unebenen Seitenflächen und der unregelmäßig ausladenden, unbearbeiteten Rückseite wirkt seine auffallend glatte Oberseite, die von den Fingerspitzen überragt wird, wie gesägt.

 

19281 wurde der Block am ehemaligen Südwestturm der Peter und Pauls-Kirche des Klosters Hirsau zusammen mit dem Fragment eines liegenden Löwen ausgegraben. Auf Grund des Fundorts und ihres Bearbeitungsstils, der Ähnlichkeiten mit den Gestalten des stehenden Nordturms erkennen lässt, wurden die Skulpturen dem im 18. Jahrhundert abgebrochenen Südturm zugeordnet und als Beweis für dessen Verzierung mit einem gleichwertigen Figurenfries, wie ihn der „Eulenturm“ aufweist, herangezogen. Nur im Hinblick auf die ursprüngliche Ausrichtung des Reliefs bzw. des Betenden finden sich unterschiedliche Auffassungen.

 

So ging Adolf Mettler, der den Stein bereits kurz nach der Auffindung in seinem 1928 erschienenen Kunstführer über Kloster Hirsau in einer Anmerkung beschrieben hat, von einer vertikalen Anbringung aus: „Kürzlich wurde am Fuße des Südturms ein Relief gefunden, das nach Größe und Form als ein Mittelstück aus dem entsprechenden Fries des zerstörten Turms anzusprechen ist. Es ist noch roher, ohne jedes organische Gefühl gearbeitet. Der Oberkörper der im Profil gegebenen Figur beugt sich zurück, die Hände greifen nach oben, der untere Teil des Körpers ist zurückgenommen, die ganze Gestalt wie unter einer Last eingeknickt. Die Haare und die Augen zeigen dieselbe Behandlungsweise wie am Eulenturm, aber Bart und Gürtung des Gewands fehlen.“2 Zur Tätigkeit und zur Identität des Dargestellten äußerte er sich nicht.

 

Karl Greiner, in dessen Garten die beiden Fragmente gefunden wurden, deutete 1929 in seiner Geschichte des Klosters Hirsau den Betenden als einen Novizen in weltlicher Kleidung, da ihm Ordenstracht, Bart und Tonsur fehlen.3 Seiner Meinung nach macht der Novize, der halbkniend die Hände wie betend nach oben strecken würde, eine spezielle Form der Verbeugung, die in den Constitutiones Hirsaugienses als „ante et retro“ bezeichnet wird. Er zog in Erwägung, dass am Südturm – in Analogie zum Nordturm mit den Laienbrüdern, die seiner damaligen Auffassung zufolge verschiedene Tätigkeiten ausführen – der Dienst der Mönche zu sehen war. Da er den Betenden als halbkniend und sich verbeugend umschrieb, ging er offenbar von seiner horizontalen Ausrichtung aus.

2 Hirsau frei
Hirsau, Klostermuseum: der „betende Mönch“ in horizontaler Ausrichtung (Bild: Autorin)
 

In einer Schrift von 1934, in der Karl Greiner den Figurenfries am Nordturm astronomisch zu deuten versuchte, beschrieb er den Stein mit der „menschlichen Gestalt“ nur noch und verwarf in einer Anmerkung seine zuvor vermutete Deutung.4 Richard Strobel, der die romanische Bauplastik in der 1991 erschienenen Jubiläumsausgabe zur Hirsauer Klosterkirche bearbeitet hat, sah in der auf Fernsicht angelegten Skulptur – dem „sogenannten betenden Mönch“ – ein Gegenstück zu den Mittelfiguren am Nordturm, da er die vorspringende Kante zu ihren Füßen als Standplatte deutete, die eine ursprünglich aufrechte Anbringung belegen würde. Gleichwohl räumte er ein, dass die Haltung der Gestalt an eine Proskynese Erkl. erinnern würde.5

 

Im Führer des Klostermuseums Hirsau aus dem Jahre 1998 wurde der Betende von Brigitte Herrbach-Schmidt und Claudia Westermann als Mönch bezeichnet und die Vermutung geäußert, dass auch er Teil eines Figurenfrieses am Südturm war.6 Auf die Diskrepanz zwischen der gebräuchlich gewordenen Bezeichnung „beten­der Mönch“ und der Kleidung der Gestalt, die wesentliche Merkmale eines Mönchsgewandes vermissen lasse, wies Richard Strobel in seinem Katalogbeitrag zur Canossa-Ausstellung 2006 hin.7 Wegen stilistischer Ähnlichkeiten der Skulptur mit den bärtigen Mittelfiguren des Nordturm-Frieses zog er eine entsprechende Stelle am abgetragenen Südturm als Anbringungsort in Erwägung. Darüber hinaus setzte Strobel erstmals die einfach gearbeitete, betende Gestalt in Beziehung zum Auftraggeber, dem Reformkloster Hirsau, das sich maßgeblich dem Gebet und dem Totengedächtnis gewidmet habe.

 

In meiner 2011 erschienenen Dissertation über Tympana Erkl. in Südwestdeutschland habe ich die Körperhaltung der knienden und betenden Gestalt als Proskynese interpretiert, die nicht ohne einen Bezugsgegenstand aufwärts ins Leere, sondern vor einer anbetungswürdigen Person ausgeführt worden sein muss.8 Folglich habe ich vermutet, dass der Betende ursprünglich waagerecht angeordnet war. Da prosternierende Erkl. Gestalten in der romanischen Bauplastik vorwiegend an Tympana verbreitet waren und das ehemalige Westportal der Peter und Pauls-Kirche eine entsprechende Größe aufwies, habe ich in Erwägung gezogen, dass der Stein ein Teil des ehemaligen Tympanons vom Westportal war und die vermeintliche Standplatte somit ein Rest der Bogenfeldrahmung. Den Dargestellten habe ich auf Grund seiner Kleidung als Laien gedeutet, bei dem es sich in Analogie zu anderen Kniefiguren um einen Stifter oder den ausführenden Künstler gehandelt haben könnte.

 

Da die 1091 geweihte Peter und Pauls-Kirche einschließlich ihrer Vorhalle und des Südturms nicht mehr steht, lässt sich wohl nie mehr eindeutig klären, woher diese Skulptur ursprünglich stammt. Dennoch erscheint es lohnend, anhand von Vergleichsbeispielen aus der romanischen Bauskulptur zu überlegen, wo der Betende angebracht gewesen sein könnte, in welchen Kontext er gehört haben kann, wer der Dargestellte und wer der Auftraggeber war und welche Absichten mit ihm möglicherweise verfolgt wurden.

 

 


 

 

Der Anbringungsort

 

Der Fundort „am Fuße des Südturms“, wie Mettler schreibt, und die große rechteckige Quaderform des Steins mit der menschlichen Gestalt, die stilistisch in einigen Details Ähnlichkeiten mit den Figuren am Nordturm hat, lässt eine Herkunft vom Südturm zwar vermuten, doch bewiesen ist diese nicht. Die vorspringende Kante zu Füßen des Betenden, die Strobel als Standplatte interpretierte und als Beleg für eine ehemals aufrechte Anbringung heranzog, findet sich bei den Skulpturen des Nordturms9 beispielsweise nicht, denn diese stehen auf separaten Gesimsblöcken. Zudem lassen die wie gesägt erscheinende Oberseite des Fragments und die über die Fläche ragenden Finger vermuten, dass der Stein in jüngerer Zeit bearbeitet worden ist.

 

Welcher Bereich am Kirchengebäude käme neben dem ehemaligen Südturm überhaupt noch für die Verwendung einer reliefierten, ganzfigurigen, lebensgroßen Gestalt in Frage, vorausgesetzt sie entstand, wie es für die Skulpturen des Nordturms angenommen wird, um 1120? Vergleichsbeispiele zu benennen, nicht nur für einen Turmfries10, fällt schwer, da skulptierter figürlicher Bauschmuck in und an südwestdeutschen Kirchen überwiegend erst ab 1100 eingesetzt wurde.

 

Sicher aus dem Inneren der romanischen Michaelskapelle der Burg Hohenzollern stammen drei circa 160 cm hohe Reliefs11 mit zwei frontal stehenden Heiligen – vielleicht die Apostel Petrus und Johannes – sowie Michael als Drachenkämpfer über den Heiligen drei Königen vor der thronenden Madonna, die heute in den Seitenwänden des spätgotischen Nachfolgebaus vermauert sind. Die ursprüngliche Anordnung und Zugehörigkeit der vermutlich um 1120 entstandenen Reliefs, die den Rest eines größeren Bildprogramms darstellen, sind genauso ungeklärt wie bei der Hirsauer Skulptur. Überliefert ist dagegen eine skulptierte Dekoration mit lebensgroßen, frontal stehenden Gestalten für das Hl. Grab in der ehemaligen Damenstiftskirche St. Cyriak in Gernrode/­Sach­sen-Anhalt12 aus dem ersten Drittel des 12. Jahrhunderts oder für die spätromanischen Chorschranken im Bamberger Dom13 aus der Zeit um 1220/30, die ältere Werke wie die um 1100 datierte Aposteltafel im Basler Münster14 zum Vorbild hatten. Für die Verwendung kniender Figuren können auch steinerne Altarretabel in Erwägung gezogen werden wie das erhaltene Exemplar von St. Servatius in Maastricht15, das die demutsvoll auf einem Bein knienden Heiligen Petrus und Servatius zeigt, die von dem in der Mitte thronenden Christus gekrönt werden.

 

7 Alpirsbach ba

Alpirsbach, ehem. Klosterkirche:Tympanon des Westportals (Bild: Wischermann, Abb. 55)

 

Am Außenbau von Kirchen findet sich zunächst vor allem an der Fassade, insbesondere an den Portalen, reliefierter Bauschmuck mit menschlichen Gestalten. Als Beispiel ist das hochrechteckige Relief mit dem thronenden Christus in der Vorhalle von St. Emmeram in Regensburg16 zu nennen, das auf Grund seiner Inschrift in die Zeit um 1050 datiert werden kann. Weitere Beispiele sind das vermutlich um 1150 entstandene Tympanon von Kloster Alpirsbach17 (oben), das zwei kniende Personen im Profil mit zum Gebet erhobenen Händen zu beiden Seiten des thronenden Christus zeigt, oder das Hauptportal der 1180 geweihten Klosterkirche von Peters­hausen/Baden-­Würt­temberg18 mit den Figuren von Bischof Gebhard II. als Klostergründer und Papst Gregor dem Großen als Patron im Gewände.

 

8 Hirs Rekonstr Westportal ba

Hirsau, ehem.Klosterkirche St. Peter und Paul: Rekonstruktion des Westportals (Bild: Autorin)

 

    9 Cluny III  Westportal ba

Als ehemaliger Anbringungsort des Hirsauer Fragments kann daher auch das Tympanon des Westportals der Klosterkirche St. Peter und Paul19 (oben) in Erwägung gezogen werden, das eine lichte Weite von annähernd 3 m und eine Tiefe von 1,25 m aufwies,20 das heißt, die für ein Bogenfeld ungewöhnliche Tiefe des Hirsauer Fragments von etwa 42 cm muss nicht gegen eine ehemalige Verwendung als Teil eines Tympanons sprechen.21 Auch am Westportal der ab 1088 erbauten Klosterkirche von Cluny III (rechts) war das laut Kenneth J. Conant aus einem Block bestehende, 5,60 m breite und 3,25 m hohe Tympanon möglicherweise ebenso tief wie der 39 cm starke Türsturz.22 Ein weiteres Indiz für die Herkunft von einem Portal könnte zudem die sich nach rechts verbreiternde Standplatte des Steins sein, bei der es sich vielleicht um den Rest einer Bogenfeldrahmung handelt.

 

 

 

 

Cluny, ehem. Klosterkirche, Bau III:
Westportal (Umzeichnung)
(Bild: Conant, Abb. 28)

 

 

 

 

 

 


 

 

Die Gebetshaltung

 

Die wesentlichen Merkmale der Figur sind die Ansicht im Profil, ihre kniende und gebeugte Körperhaltung nach links sowie ihre zum Gebet erhobene Hand. Allgemein wird angenommen, dass sie ihrer heutigen Aufstellung entsprechend vertikal ausgerichtet war. Vergleichsbeispiele zu finden für eine solche ungewöhnliche Haltung, bei der die Gestalt zurückzufallen droht, bereitet jedoch Schwierigkeiten. Welche Handlung soll sie in welchem Kontext ausgeführt haben? Greiner23 zog zunächst in Erwägung, dass der Dargestellte, den er auf Grund seiner äußeren Erscheinung als Novizen interpretierte, eine spezielle Form der Verbeugung mache, die, wie bereits erwähnt, in den Hirsauer Constitutiones beschrieben und dort mit „ante et retro“ bezeichnet wird.24 Bei dieser Geste der Ehrerbietung bleibt der sich Verneigende aber stehen und beugt nicht die Knie, wie es die Hirsauer Figur unzweideutig tut. Andererseits wirkt ihre Gemütsverfassung zu konzentriert und meditativ, als dass es sich um die Reaktion auf ein überwältigendes Ereignis – wie beispielsweise die Himmelfahrt Christi – handeln könnte, das die Gestalt rücklings zu Boden zu werfen droht.

 

Betrachtet man den Stein jedoch in horizontaler Lage Abb., so ähnelt die Haltung der Figur – wie Richard Strobel schon angemerkt hat – einer Proskynese.25 Dieser demütige Fußfall, der auch mit einem Fußkuss einhergehen konnte, war nicht nur eine Form der Huldigung und der Anbetung, sondern auch ein Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit verbunden mit der Bitte um Erbarmen und göttliche Gnade.26 In der christlichen Kunst des Mittelalters wurde die Proskynese vor allem von weltlichen Herrschern, Klerikern und Engeln zu Füßen einer meist thronenden Person – Christus, Maria, Heiliger – ausgeführt. Der Habitus der Hirsauer Gestalt mit der betenden Hand lässt an das demütig bittende und huldigende Niederknien vor dem Herrn denken, wie es in der Bibel überliefert ist27 und wie es in den Hirsauer Constitutiones gelegentlich für das Gebet verlangt wird.28

 

10 Hagia Sophia ba

Istanbul, Hagia Sophia: Mosaik über der Kaisertür (Bild: Gebetbuch Ottos III., Tafel 6)
 

Eine frühe Darstellung ist das um 900 datierte Mosaik im Narthex29 der Hagia Sophia mit Kaiser Leon VI., der zur Rechten des thronenden Gottessohnes auf dem Boden kniet und sich ergeben verbeugt (oben). Die Kaiserpaare Heinrich II. und Kunigunde sowie Konrad II. und Gisela ließen sich im 11. Jahrhundert auf dem Basler Antependium30 bzw. im Goldenen Evangelienbuch Heinrichs III.31 in Proskynese vor dem Weltenherrscher darstellen.

 

12 St Ulrich Brunnen ba
St. Ulrich, ehemaliges Cluniazenserpriorat: Brunnenschale (Umzeichnung) (Bild: Steyrer, Tafel 1)
 

Auch Kleriker brachten durch den gebeugten Kniefall oder eine vergleichbar demütige Körperhaltung ihre Huldigung einer von ihnen verehrten Person entgegen: So kauert die Äbtissin Theophanu des Essener Stifts auf dem Bucheinband ihres Evangeliars32 aus dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts zur Rechten der Gottesmutter, so liegt Abt Suger von St-Denis um die Mitte des 12. Jahrhunderts im Fenster mit der Verkündigung33, das zum Zyklus der Kindheit Christi in der „chapelle de la vierge“ gehört, auf den Knien vor Maria. Auch auf der Brun­nenschale34 des ehemaligen Cluniazenserpriorats St. Ulrich in Bollschweil/Baden-Württemberg aus dem frühen 12. Jahrhundert kauern oder liegen vier Mönche in Kutten mit zum Gebet erhobenen Händen zu Füßen zweier Thronfiguren in einer Mandorla Erkl. (oben). Auf der einen Seite ist es der Gottessohn, der von den Evangelistensymbolen umgeben ist, und auf der anderen Seite die Maria-Ecclesia, die von zwei Propheten flankiert wird.

 

13 Fidenza ba
Fidenza, Dom San Donnino: Scheitelfiguren des Hauptportals (Bild: Autorin)
 

Huldigende Engel, die den thronenden Gottessohn gebeugt anbeten, begegnen auf der Mailänder Elfenbeintafel mit Kaiser Otto I., seiner Ehefrau Adelheid und dem Thronfolger zu Füßen Christi35 und im Bogenscheitel des Hauptportals am Dom zu Fidenza/Emilia-Romagna (oben).36 Am Hauptportal von Cluny III Abb. wurde vermutlich die Figur Gottvaters im Bogenscheitel von mehreren Engeln angebetet, die in der innersten von vier Archivolten abgebildet waren.37

 

In der romanischen Bauplastik, zu der die Hirsauer Skulptur auf Grund ihrer Größe und ihrer stilistischen Merkmale zählt, kommen Prosternierende vor dem Gottessohn, Maria oder einem Heiligen überwiegend am Tympanon vor. Selten ist es nur eine Person, die sich auf der linken Seite – also zur Rechten – der göttlichen oder heiligen Person befindet, wie der betende Abt Suger, der 1140 im Tympanon38 von St-Denis ganz klein vor dem übermächtigen Weltenrichter kniet. Meist sind es zwei Gestalten, die mehr oder weniger gebeugt die Zentralfigur in ihrer Mitte anbeten. So verneigen sich die beiden Anbetenden zu Seiten des thronenden Christus am Tympanon der Stiftskirche St. Paul im La­vanttal/Kärnten39 (unten) oder die zwei Beter beid­seits des Kreuzes am Tympanon der alten Burgkapelle von Büdin­gen/Hessen40 ähnlich ehrerbietig, wie die Hirsauer Figur es in horizontaler Ausrichtung täte.

 

15 St Paul im Lavanttal ba
St. Paul im Lavanttal, Klosterkirche: Tympanon des Westportals (Bild: Bildarchiv Foto Marburg)
 

Eine möglicherweise nicht nur formale Variante sind Bogenfelder mit aufrecht knienden Betern, deren Körperhaltung einen weniger unterwerfenden als huldigenden Charakter hat. Hierzu zählen die Tympana von Alpirsbach41 Abb. und St. Ilgen42 in Baden-Württemberg sowie St-Ursanne im schweizerischen Jura43, Mei­stratz­heim44 im Elsass und Laître-sous-Amance45 in Lothringen.

 

Die genannten Beispiele aus der Mosaik- und Goldschmiedekunst, der Buch- und Glasmalerei sowie der Monumentalplastik zeigen, dass häufig zwei Prosternierende oder Niederkniende eine Thronfigur flankieren, um ihre Anbetung und Ehrerbietung zum Ausdruck zu bringen. Ist nur eine einzelne huldigende Person dargestellt – wie beispielsweise Leon VI. oder Abt Suger –, so kommt diese – anders als die Hirsauer Figur – immer von links ins Bild. In Analogie zu den Vergleichsbeispielen kann man annehmen, dass der Kniende von Hirsau nicht bezugslos nach oben, sondern zu Füßen eines vielleicht thronenden Gottessohnes betete, den auf der anderen Seite eine weitere Gestalt in gleicher Körperhaltung flankierte. In diesem Fall wäre der Hirsauer Beter waagerecht angeordnet gewesen und das Fragment einer ehemals mehrfigurigen Komposition.

 

Geht man von einer waagerechten Anordnung der Skulptur sowie des anzunehmenden Pendants aus und berücksichtigt ein Mittelteil mit dem Gottessohn, so käme für den Block (oder die Blöcke) bei einer Breite von circa 3 m als ehemaliger Anbringungsort – wie oben bereits in Erwägung gezogen – in erster Linie das Bogenfeld des ehemaligen Westportals der Peter und Pauls-Kirche in Frage Abb..46

 


 

 

Die Kleidung

 

Eine Inschrift, der die Identität des Betenden zu entnehmen wäre, ist nicht vorhanden. Somit kann lediglich der gesellschaftliche Stand des Dargestellten mit Hilfe der Kleidung diskutiert werden. Wie Karl Greiner schon feststellte, fehlen dem sogenannten Mönch beim heutigen Zustand der Skulptur alle Zeichen und Kleidungsstücke, die ihn als solchen kennzeichnen würden: Tonsur, Kapuze und Gürtel.47 Er vermutete daher zunächst, dass es sich um einen Novizen handeln könnte.48 Doch bei den Cluniazensern erhielten die Novizen schon mit Beginn der Probezeit eine Tonsur und einen „froccus“, ein langes Talargewand mit sehr weiten Ärmeln, an welches eine Kapuze genäht wurde, sofern die Novizen gemeinsam mit den Mönchen und nicht separiert in eigenen Zellen lebten.49

 

Vergleicht man die Skulptur mit den Gestalten vom Eulenturm, auf denen noch sehr viel mehr Details wie Ohren und Bart sowie Gürtel und Stiefel zu erkennen sind, so wird deutlich, dass der Erhaltungszustand des Fragments zu berücksichtigen ist. Nicht auszuschließen ist außerdem, dass Kleidungsbestandteile wie Kapuze und Gürtel eines Mönchs oder gar die Flügel eines Engels ursprünglich aufgemalt waren.

 

Im heutigen Zustand trägt die betende Figur keines der seinerzeit in Cluny und Hirsau gebräuchlichen Mönchskleider, wie sie in der Buchmalerei50 oder in zeitgenössischen Texten wie dem sogenannten Lorscher Spottgedicht über die Hirsauer überliefert sind51: weder die lange, ärmellose Skapulierkukulle mit Kapuze noch einen „froccus“, das stoffreiche, lange Talargewand mit sehr weiten Ärmeln, das in Hirsau über der Skapulierkukulle getragen wurde.52 Das an den Armen eng anliegende und am Rumpf geblähte Kleid, das nur unterhalb der Knie in Falten liegt, könnte am ehesten als eine Albe53 – ein liturgisches (Unter)Gewand für den Dienst am Altar – angesehen werden, das auch von Engeln getragen wird.54 In vergleichbaren Gewändern sind die Träger der Weihrauchfässer bei der Weihe des Hochaltars von Cluny 1095 durch Papst Urban II. im Chronicon Cluniacense von Saint-Martin-des-Champs (unten) abgebildet.55

 

21 Chronicon Cluniacense ba
Weihe des Hochaltars von Cluny III im Chronicon Cluniacense.
Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. lat. 17716, fol. 91r (Bild: Conant, Frontispiz)
 

Doch auch andere der oben genannten Mönchsdarstellungen an Kirchen lassen keine stereotype Kleidung erkennen: So trägt der Mönch am Tympanon von Alpirsbach56 Abb. ein bodenlanges Gewand mit Kapuze und mäßig weiten Ärmeln, aber keinen Gürtel. Der bärtige Abt am Tympanon von St. Ilgen57 und der heilige Mönch von St-Ursanne58 sind bekleidet mit Gewändern, die in der Taille geschnürt sind, die aber keine Kapuze aufweisen! Das stoff- und faltenreiche Kleid des Mönchs, der in St. Paul im Lavanttal59 rechts zu Füßen des Erlösers kniet, hat ebenfalls keine aus der Ferne zu erkennende Kapuze Abb.. Und auch Abt Wilhelm von Hirsau60 ist im Reichenbacher Schenkungsbuch nicht in einer Mönchskutte, sondern in Albe und Pluviale, einem Festgewand für den Gottesdienst, dargestellt.

 


 

 

Stil

 

Die Ausführung unseres Beters erinnert zwar in einigen Details – den streifenartigen Haaren, den wulstgerahmten Augen und dem dreieckigen Gesicht – an die Gestalten vom Eulenturm. Doch ist seine Oberfläche, die vermutlich durch spätere Einflüsse beeinträchtigt wurde, schlechter erhalten, auch sein Körper erscheint unförmiger als der der Gestalten am Nordturm und gleicht einer in Stein gearbeiteten primitiven Zeichnung. Im Gegensatz dazu treten bei den Figuren vom Eulenturm nicht nur die einzelnen Gliedmaßen durch die Kleidung deutlicher hervor, auch die Köpfe, die Gewänder und die Bewegungsmotive sind detailreicher ausgeführt: Augen und Münder sind durch kräftige Umrandungen konturiert, große Ohren stehen in Höhe der Augen vom Kopf ab, und der Bart wird – wie das Haupthaar – durch parallel liegende Streifen angedeutet. Ein Gürtel, dessen beide Enden in der Mitte herunterhängen, hält das knielange Gewand der Dargestellten, die knöchelhohe Stiefel tragen. Die Körperkonturen und -haltungen sind deutlich zu erkennen: Die Gestalten knien oder hocken, tragen Lasten über ihrem Kopf, stützen die Arme auf die Knie und heben die Hand schützend über die Augen.

 

Auch die Haltung der Betenden am Tympanon der alten Burgkapelle in Büdingen61, die zu Seiten des Kreuzes knien, wirkt trotz der überlängten Arme authentischer: Mit geradem Rücken und leicht vorgebeugt richten die Gestalten mit angewinkelten Armen und zum Gebet erhobenen Händen den Blick auf das Kreuz zwischen ihnen. Die Gesichtszüge, die etwas besser erhalten sind als bei der Hirsauer Figur, wirken ähnlich archaisch.

 

Neuwiller les Saverne ba
Neuwiller-lès-Saverne, ehem. Klosterkirche St-Pierre-et-St-Paul: Tympanon des nördlichen Querhausportals
(Bild: Autorin)

 


 

 

Ikonographie

 

Die wesentlichsten Fragen zum Hirsauer „Mönch“ gelten wohl seiner Identität: Wer ist der Dargestellte? Lässt er sich benennen? Ist es möglich, nur anhand der Kleidung Rückschlüsse auf seinen gesellschaftlichen Stand zu ziehen? Handelt es sich trotz fehlender Merkmale wie Tonsur, Kapuze und Gürtel vielleicht doch um einen Mönch oder einen Novizen? Ist er stellvertretend für den Konvent abgebildet? Welchen Sinn hatte die Proskynese?

 

Bei den oben genannten Objekten, die als formale Vergleichsbeispiele herangezogen wurden, hat man die knienden Beter als Gründer und Wohltäter des Klosters oder des Gebäudes sowie als Stifter oder Meister des jeweiligen Objekts gedeutet: So werden in den vier anbetenden Kuttenträgern auf der Brunnenschale von St. Ulrich (um 1110/20), die einst vermutlich im Kreuzgang des Priorats gestanden hat, „die Meister oder Stifter des Werkes“ gesehen Abb..62 Ob die vermeintlichen Auftraggeber der ungewöhnlich großen Schale dem Konvent des Cluniazenserpriorats, das um 1087 von dem aus Regensburg stammenden Mönch Ulrich von Cluny von Grüningen ins Möhlintal verlegt worden war,63 angehört haben oder einer anderen Klostergemeinschaft, wird nicht erörtert.

 

Die knienden Assistenzfiguren am Tympanon von Alpirsbach (um 1150), die mit einer Mönchskutte und dem Gewand einer Nonne oder einer verheirateten Frau bekleidet sind64 und zu Seiten Christi ihre Hände anbetend erhoben haben, werden als der Klostergründer Adalbert von Zollern und dessen Ehefrau gedeutet, da Adalbert, einer der drei Stifter des 1095 gegründeten Klosters, dem Konvent beigetreten war Abb.. Da seine Nachfahren, die Grafen von Zollern, zur Entstehungszeit des Tympanons Vögte des Klosters Alpirsbach waren, werden sie als Auftraggeber in Erwägung gezogen. Mit der Darstellung ihrer Vorfahren und Klostergründer über dem Kirchenportal könnten sie ihren Anspruch auf die Schutzvogtei zum Ausdruck gebracht65 oder ihren Vorfahren ein Denkmal gesetzt haben.66

 

Am Tympanon der Pfarrkirche von Laître-sous-Amance67 in Lothringen (um 1140/50), einem ehemaligen Priorat des Benediktinerklosters St-Mihiel/Meuse68, knien – soweit dieses in Anbetracht der schwer beschädigten Köpfe zu erkennen ist – zwei Gestalten69, zwei bärtige Männer70 oder ein Mann und eine Frau71 in wadenlangen, gegürteten Gewändern und Umhängen mit zum Gebet erhobenen Händen hinter zwei stehenden Engeln, die einen thronenden Christus im Zentrum anbeten. Zwei weitere Figuren, laut Müller-Dietrich die Ehefrauen der Knienden, sitzen über den Kämpfern an der mittleren Archivolte. In den Dargestellten am Tympanon werden Stifter vermutet, deren Kleidung, die sich nur geringfügig von der der Engel unterscheidet, als schlicht72 oder als ostentativer Ausdruck gehobener Standeszugehörigkeit interpretiert wird.73 In Erwägung gezogen werden Louis de Montbéliard, der Ehemann von Sophie de Bar, die die Kirche 1076 gegründet hatte, sowie Frédéric de Ferrette, ein Nachfahr von Sophie de Bar, der die Kirche im 12. Jahrhundert dem Kloster St-Mihiel übergeben hat und vermutlich erneuern ließ. Obwohl der Ehemann von Sophie de Bar in den überlieferten Schriftquellen zur Kirchengründung von Laître überhaupt nicht erwähnt wird,74 soll er mit seinem Nachfahren oder seiner Ehefrau im Tympanon wiedergegeben sein. Hubert Collin gibt zu bedenken, dass Stifter vermehrt am Ende des Mittelalters auf den Monumenten abgebildet wurden.75

 

Zwei ungleiche bärtige Kniefiguren flankieren am Tympanon der Ägidiuskirche von St. Ilgen76 (1180 / 90), einer ehemaligen Propsteikirche des Klosters Sinsheim, den thronenden Christus im Zentrum. Während die rechte Gestalt mit Tonsur, gegürteter Tunika und einem Krummstab, den sie mit beiden Händen umfasst, als Kleriker gekennzeichnet ist, scheint es sich bei der Linken, die anbetend die Hände erhoben hat und keine entsprechenden Merkmale aufweist, um einen Laien zu handeln. In der rechten Figur wird Abt Johannes gesehen,77 in dessen Amtszeit (1158–70) das kleine Kloster erbaut wurde, oder der Kirchenpatron Ägidius – nach einer Legende der erste Abt des von ihm gegründeten Klosters Saint-Gilles in Südfrank­reich –, der Fürbitte beim Gottessohn für die Gläubigen einlegt und wegen der Wirksamkeit seiner Fürbitten besonders verehrt wurde.78 Die linke Gestalt wird als geistlicher oder weltlicher Stifter des Klosters gedeutet, dessen Name in den Quellen jedoch nicht überliefert ist,79 oder als reuiger Büßer, der um Vergebung seiner Sünden bittet.

 

In Büdingen soll es sich bei den beiden knienden Männern, die sich dem Kreuz im Zentrum des Tympanons der Burgkapelle (spätes 12. Jahrhundert) anbetend zuwenden, um Mönche80 oder um die zu dieser Zeit in Frage kommenden Bauherren und Stifter der staufischen Wasserburg, Hermann und Hartmann von Büdingen,81 handeln, deren Sohn und Neffe Gerlach II. von Büdingen zu ihrem Gedenken und ihrem Seelenheil das Tympanon habe anfertigen lassen, da sie angeblich vom Kreuzzug Heinrichs VI. nicht zurückgekehrt seien.82

 

Handelt es sich in Analogie zu diesen Beispielen demnach bei der Hirsauer Figur – unabhängig von ihrem ehemaligen Anbringungsort – um ein Abbild des Hirsauer Klostergründers Erlafried, des Neugründers Adalbert von Calw83 oder gar des Abtes Wilhelm von Hirsau84, dem eine weitere Gestalt zu Seiten Christi „gegenüberstand“? Zieht man die überlieferten Schriftquellen zur Interpretation heran, insbesondere einen der beiden Gründungsberichte im Codex Hirsaugiensis (fol. 2a/b), in dem „die Eigenklosterherren und in Sonderheit Adalbert von Calw selbst mit harten Worten für den Niedergang des Klosters verantwortlich gemacht werden“85 und der von Hermann Jakobs ins frühe 12. Jahrhundert datiert wird,86 somit in die Zeit des Hirsauer Fragments, dann erscheint es kaum wahrscheinlich, dass der amtierende Abt Bruno (1105–1120) dem umstrittenen Klosterneugründer Adalbert von Calw ein ehrendes Abbild am Kircheneingang gewährt hat. Über diesen Gründungsbericht hinaus lässt der erhaltene Bestand an Schriftquellen und Denkmälern nach den Ausführungen von Renate Neumüllers-Klauser darauf schließen, dass sich das Stiftergedenken in Hirsau in erster Linie auf die Klostergründung bezog und nicht auf die weltlichen Stifter.87

 

Bei anderen der oben genannten Vergleichsbeispiele finden sich in der Literatur lediglich Angaben zum gesellschaftlichen Stand der Dargestellten oder zu ihrer Beziehung zum Objekt als Auftraggeber der Skulptur oder Gründer des Klosters. Es wurden aber keine konkreten Namen der Dargestellten erwogen.

 

Am Tympanon von Meistratz­heim/El­sass88 (frühes 13. Jahrhundert) thronen Christus und zwei Heilige – ein Bischof mit Buch und Stab sowie einer Schlange unter seinen Füßen und vielleicht eine Frau, die die Hände anbetend erhoben hat ­– unter einer dreibogigen Blendarkatur. Die Dreiergruppe wird flankiert von zwei betenden Gestalten, die in den Zwickeln des Bogenfeldes knien. Diese tragen zwar keine Kutte, sondern nur bodenlange Gewänder, aber wegen ihrer tonsurierten Köpfe ist mit Joseph Foesser zu vermuten, dass es sich um zwei Mönche handelt,89 die von Robert Will als Stifter interpretiert wurden.90

 

Zu Füßen des thronenden und von zwei Engeln umgebenen Christus am Tympanon der Klosterkirche von St. Paul im Lavanttal/Kärnten91 (um 1210/20) kauern zwei anbetende Figuren, in denen der Klosterpatron, der Apostel Paulus, und der Abt des Klosters vermutet wurden Abb..92 Während der Heilige zur Linken Christi durch einen Heiligenschein gekennzeichnet ist, weist der vermeintliche Abt auf der gegenüberliegenden Seite mit Tonsur und einem gegürteten Gewand mit flach aufliegender Kapuze lediglich Merkmale eines Mönchs auf.

 

Eine ähnlich erweiterte Komposition findet sich am Tympanon des nördlichen Querhauses der ehemaligen Klosterkirche St-Pierre-et-St-Paul in Neuwiller-lès-Saverne/Elsass93 (um 1250). Hier thront der segnende Christus zwischen schwebenden Engeln unter einer Dreipassarkade Abb.. In den Ecken des Bogenfeldes stehen die Kirchenpatrone Petrus und Paulus unter Arkaden. Rechts und links des Thronenden – unterhalb der Engel – knien zwei anbetende Mönche, die auch hier von Robert Will als Stifter gedeutet wurden. Beide tragen eine Tonsur, doch während der Rechte mit einer einfachen Mönchskutte bekleidet ist, wirkt das Gewand des Linken mit einer Knopfleiste über der Brust kostbarer. Eine Krümme im Hintergrund, die dieser mit seinen Händen zu umfassen scheint, lässt in ihm den Abt des Klosters vermuten.

 

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La Charité-sur-Loire, ehem. Prioratskirche:Marientympanon im nördlichen Westturm (Bild: Autorin)

Abweichend von der gängigen Auffassung der knienden oder prosternierenden Betfigur als Stifter wurden die Mönche an dem um 1130 entstandenen Marientympanon von La Charité-sur-Loire/Nièvre gedeutet (oben).94 Auf dem Bogenfeld, das in der unteren Hälfte schwer beschädigt ist, umgeben zwei – ursprünglich vielleicht auch vier95 – auf Knien betende Ordensmänner in Kutten eine Figurengruppe mit dem thronenden Christus in der Mandorla, der sich der stehenden Maria zu seiner Linken zuwendet. Auf der anderen Seite des Gottessohnes stehen zwei Engel, von denen der eine die Mandorla und der andere einen Kreuzstab hält. Während der Mönch zu Füßen der Engel auf dem Boden zu knien scheint, schwebt offenbar der gegenüberliegende hinter der Gottesmutter. Die Dar­stellung wurde wegen ihrer ungewöhnlichen Ikonographie als Glorifikation96, Krönung97, Aufnahme98 oder Fürbitte99 der Muttergottes interpretiert: Maria erwirkt die Segnung und die Aufnahme des Ordens von Cluny oder des Priorats von La Charité bei Christus100 oder führt einen Mönchsheiligen vor den Thron Christi.101 Die betenden Mönche wurden dabei nicht nur als Abbilder konkreter Personen gedeutet, als Hugo von Cluny, Bischof Geoffroy von Auxerre und Prior Gerhard102, als verstorbene Grün­der und amtierender Prior von La Charité103 oder als Mönchs­heiliger104, sondern auch als Repräsentanten des Ordens von Cluny105 oder der Menschheit106.

 

Tatsächlich lassen verschiedene Merkmale, die die genannten Vergleichsbeispiele gemeinsam haben, Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei Betfiguren zwangsläufig um die Gründer des Klosters oder die Stifter des Werks handeln muss. Bemerkenswert ist, dass keine der Gestalten namentlich benannt ist – wie das in der Buchmalerei fast die Regel ist –, dass die Dargestellten kein Kirchenmodell oder ein anderes Dedikationsobjekt in den Händen halten – wie beispielsweise Abt Heinrich am Westportal der ehemaligen Stiftskirche in Millstatt/Kärnten107 – und dass die Kutten- und/oder Ton­surträger überwiegend paarweise abgebildet sind.

 

Am auffallendsten ist, dass diese betenden Mönche nicht klein und unscheinbar auftreten, wie man das von einem demütigen Stifter erwarten würde, sondern dass sie zusammen und auf gleicher Höhe mit Engeln begegnen, mit denen sie an einer feier­lichen Messe im Himmel teilzunehmen scheinen, bei der die Engel wie Liturgen die Mandorla mit dem thronenden Christus wie eine Hostie halten – so in Alpirsbach Abb. und La Charité-sur-Loire Abb. – oder dem Hohenpriester Christus huldigend das Weihrauchfass schwenken – so in St. Paul im Lavanttal Abb. und Neuwiller-lès-Saverne Abb.108. Gelegentlich nehmen die Mönche sogar den Platz von Engeln ein, wenn sie wie bei der Anbetung der Maiestas Domini im Gebetbuch Ottos III. (unten) die Mandorla mit dem thronenden Christus tragen109 – so auf der Brunnenschale von St. Ulrich Abb..

 

25 sog Gebetbuch Ottos III ba Christus in einer von Engeln gehaltenen Mandorla im Gebetbuch Ottos III. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30111, fol. 21r
(Bild: Gebetbuch Ottos III., Abb. 9)

 

Gemeinsam mit dem Hirsauer Fragment ist darüber hinaus allen genannten Vergleichsbeispielen – mit Ausnahme des Tympanons von Büdingen –, dass sie von Kloster-, Priorats- oder Pfarrkirchen stammen, die der benediktinischen Reformbewegung des 11. und 12. Jahrhunderts angehörten: St. Ulrich und La Charité-sur-Loire waren Priorate von Cluny110; Alpirsbach war durch das fruttuarisch geprägte Reformkloster St. Blasien gegründet worden und mit der Abtei durch eine Gebetsverbrüderung verbunden geblieben111; Laître-sous-Amance war ein Priorat von St-Mihiel an der Maas in Lothringen, einem Reformkloster, das in enger Verbindungen zu St-Vanne in Verdun stand und dessen cluniazensisch-gorzische Gewohnheiten übernommen hatte112; St. Ilgen war eine kleine Propstei des Klosters Sinsheim, das der von Fruttuaria übernommenen Reformbewegung von Siegburg angehörte113; die Pfarrkirche St. Andreas im elsässischen Meistratzheim ist wahrscheinlich von dem zwischen Etival und Senones in den Vogesen gelegenen cluniazensischen Reformkloster Moyenmoutier114 erbaut worden, da die Abtei zur Bauzeit der Kirche im frühen 13. Jahrhundert vermutlich alleine das Patronat ausübte und zehntberechtigt war115; das Benediktinerkloster St. Paul im Lavanttal war auf Bitten seines Stifters Engelbert von Spanheim, eines Anhängers Papst Gregors VII., bei seiner Gründung 1091 durch Mönche und den designierten Abt Wezilo aus Hirsau besiedelt worden116; das Benediktinerkloster St-Pierre-et-St-Paul in Neuwiller-lès-Saverne im Elsass, das im 8. Jahrhundert von dem Metzer Bischof Sigisbald (716–742) gegründet worden war und bis ins 12. Jahrhundert zum Bistum Metz gehörte, war vermutlich um 1000 zunächst von Abt Mainhard aus Gorze und 1029 im Rahmen der frühen lothringischen Mischobservanz durch Abt Theoderich reformiert worden, den der Kirchenreformer Poppo von Stablo eingesetzt hatte.117

 


 

 

Funktion

 

Schließlich ist zu fragen nach der Funktion der anbetenden Figuren an einem prominenten Ort wie dem Kircheneingang und der Intention ihrer Auftraggeber, bei denen es sich um den Gründer des Klosters, den Stifter des Werks oder um den Abt als Vertreter des Konvents handeln kann.

 

Tatsächlich war das Kirchenportal ein Ort, an dem nicht selten der Gründer des Klosters oder der Erbauer der Kirchen gedacht wurde, was den Inschriften beispielsweise der Tympana von Egmond/Holland118 (unten) und Herrenalb119 zu entnehmen ist. Besonders an dieser exponierten Stelle konnte man die Fürbitte aller Kirchenbesucher erhoffen.120 Vielleicht galt die Abbildung eines weltlichen Gründers und das damit einhergehende Gedenken am Kirchenportal bei den cluniazensischen Reformklöstern sogar als Ersatz für ein repräsentatives Grab in der Kirche, da weder für Adalbert von Calw121noch für Adalbert von Zollern122 überliefert ist, wo sie bestattet wurden. Denn ein ehrenvolles Hochgrab in der Mitte der Peter und Pauls-Kirche – „in medio ecclesiae“ – hatte kein weltlicher Stifter, sondern Abt Wilhelm 1091 erhalten, wie die „Vita Wilhelmi“ berichtet, dessen Inschrift ihn als Abt und ersten Gründer – „primus fundator“ – des Klosters Hirsau bezeichnete.123

 

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Amsterdam, Rijksmuseum: Tympanon der Klosterkirche von Egmond (Bild: Ligtenberg, Tafel 1)

 

Die Kleidung der zum Vergleich herangezogenen Dargestellten in Mönchskutten – wie in St. Ulrich Abb., Alpirsbach Abb., St. Paul im Lavanttal Abb. und Neuwiller-lès-Saverne Abb. – ließ jedoch Zweifel aufkommen, ob es sich immer um die Gründer oder Stifter oder aber um Mönche als Vertreter der reformierten Ordensgemeinschaft handelte. Allerdings sind ab der Mitte des 11. Jahrhundert nicht wenige Klostergründer und Wohltäter in den begünstigten Konvent eingetreten – neben Adalbert von Calw in Hirsau und Adalbert von Zollern in Alpirsbach auch Hezelo in St. Georgen124 –, um als Mönch gekleidet oder auf dem Friedhof des Klosters bestattet den himmlischen Lohn zu erlangen.125

 

Denn zu den Hauptaufgaben von Reformklöstern cluniazensisch-hirsauer Prägung gehörte neben der strikten Befolgung der Benediktsregel, dem andauernden Gotteslob und der Messfeier das liturgische Gedenken an die Verstorbenen in Verbindung mit der Armenfürsorge.126 Schenkungen an das Kloster, bei denen es sich überwiegend um Grundbesitz, Wohn-, Ökonomie- und Sakralgebäude handelte127, ermöglichten nicht nur den Eintrag in das Verbrüderungsbuch – den „liber vitae“ – und das damit verbundene Gedenken an den Stifter über dessen Tod hinaus, sondern auch die Abtragung von Sündenschuld durch die Gabe von Almosen an die Armen. Da der Wohlstand von Klöstern vermehrt auf solchen Schenkungen „ad sepulturam“ von Laien basierte, denen als Gegenleistung Fürbitten der Mönchsgemeinschaft für ihr Seelenheil versprochen wurden, werden die Klöster sehr daran interessiert gewesen sein, neue Stiftungen zu erhalten.128

 

Möglichkeiten, nach außen hin die fromme, enthaltsame Lebensweise und das engelgleiche Leben129 der Konvente als Voraussetzung und Gewährleistung der besonderen Wirksamkeit ihrer Fürbitten zu demonstrieren, waren die Verbreitung von wunderbaren Ereignissen und Legenden, die auf die Fürbitten cluniazensischer Mönche zurückzuführen waren,130 sowie die Darstellung von demütig betenden und sich unterwerfenden Mönchen am Kircheneingang – bei denen es sich auch um die Gründer oder Stifter des Klosters handeln kann –, die zusammen mit Engeln oder an deren Stelle der ewigen Anbetung und Anschauung des Erlösers im Jenseits teilhaftig waren.131

 

Als Propaganda angesehen werden können zudem rühmende Berichte über Cluny wie der von Rodulfus Glaber (985 bis um 1047), der in seinen „historiae“132 einen legendären, in Afrika lebenden Eremiten sagen lässt, dass „vor allen Klöstern des römischen Erdkreises Cluny herausragend die Seelen von dämonischer Beherrschung zu befreien [vermag]. So oft wird dort das Messopfer dargebracht, dass kein Tag vergeht, an dem nicht solch heiliger Handel Seelen aus der Gewalt der bösen Geister entreiße“.133 Und tatsächlich, so fährt Glaber fort, hätte er selbst gesehen, dass es in jenem Kloster üblich sei, wegen der vielen Brüder vom Sonnenaufgang bis zum Abendessen kontinuierlich die Messe zu feiern. Die Messfeiern seien so angemessen, rein und ehrerbietig ausgeführt worden, dass man sie eher für eine Darbietung von Engeln denn von Menschen gehalten hätte – „magis angelica quam humana exibitio putabatur“. Petrus Venerabilis (Abt von Cluny 1122–1156) überbot diese Aussage noch, wenn er resümierte, dass das Kloster Cluny wegen seiner Frömmigkeit, seiner strengen Disziplin, der Anzahl der Mönche und der Einhaltung aller mo­nas­tischen Regeln die beinahe in der ganzen Welt bekannteste, einzigartige und allgemeine Zufluchtsstätte der Sünder – „refugium peccatorum“ – sei.134

 

Schon Adalbert von Calw hatte nach den Angaben im sogenannten Hirsauer Formular (DH IV 280) von 1075 Kloster Hirsau nicht nur für die Hoffnung und den Lohn des ewigen Lebens, die ewige Ruhe der Seelen und für das tägliche Gedenken an sich und seine Familie, sondern auch zur Vergebung aller Sünder – „ob remissionem omnium peccatorum“ – wiederherstellen lassen.135

 

Der Konvent von Hirsau war offenbar auch in der Öffentlichkeit darum bemüht, durch frommes und strenggläubiges Auftreten die Menschen für sich zu gewinnen, was dem im frühen 12. Jahrhundert in satirischen Versen verfassten Brief Lorscher Mönche an Heinrich V. zu entnehmen ist,136 in dem diese sich ausführlich über das frömmelnde Gebaren der Hirsauer beklagen: „So würden die Hirsauer diejenigen, von denen sie glauben, dass sie ihre Anhänger seien, unterwürfig begrüßen mit den Worten: Gnade und Friede seien mit Euch, segnet und vertraut uns, tausendmal betet unsere Schar das Vater Unser für euch. Hundertmal würden sie, auf die Knie fallend, mit den Bärten den Fußboden fegen, damit das wankelmütige Volk sie für Diener des Herrn halten solle“.137

 

Dass die Hirsauer Mönche sich selbst nach dem Vorbild der Klosterpatrone Petrus und Paulus sowie der Engel als Diener Christi gesehen haben,138 geht aus einem vermutlich von Hirsauer Mönchen unter dem Namen Urbans II. gefälschten Papstprivileg aus der Mitte des 12. Jahrhunderts hervor, in dem die Klöster der Hirsauer Kongregation als „habitacula servorum Christi“ bezeichnet werden.139

 

Ein ähnliches Selbstverständnis der cluniazensisch-hirsauischen Kongregation kommt auch in der nicht mehr erhaltenen Inschrift an der Brunnenschale von St. Ulrich Abb. zum Ausdruck, die – je nach Lesart – besagt, dass der von Gott erfüllte (Benediktiner)Orden wie die Apostel der Welt durch das Wort den Glauben verkünde: ORDO DEO PLENVS MVNDO CLAMAT DVODENVS QVOD VERBO FIDEM […].140 Hier werden die Mönche, die auf der Brunnenwand unter dem thronenden Gottessohn und der Muttergottes abgebildet sind, mit den Aposteln gleichgesetzt, in deren Nachfolge sie ein brüderliches und regeltreues Leben in Armut führen und der Welt das Wort Gottes verkünden.141

 


 

 

Schlussbetrachtung

 

Der Vergleich des Hirsauer Fragments mit anderen monumentalen Skulpturen des 12. und 13. Jahrhunderts lässt annehmen, dass es ursprünglich waagerecht angeordnet und Teil einer mehrfigurigen Komposition war. Diese bestand vermutlich aus einer zentralen Gestalt, die beidseits von zwei gebeugten Kniefiguren – von denen die Rechte als Hirsauer Fragment erhalten blieb – flankiert wurde. Als ursprünglicher Anbringungsort ist das ehemalige Bogenfeld des Westportals der Hirsauer Klosterkirche St. Peter und Paul in Erwägung zu ziehen.

 

Ob es sich bei der abgebildeten Person in Analogie zu vergleichbaren Darstellungen um den ersten Gründer von Kloster Hirsau Erlafried oder den Neugründer Adalbert von Calw, um Abt Wilhelm oder einen Mönch als Vertreter des Konvents handelt, ließ sich mangels Inschriften oder sonstiger Textquellen nicht klären. Unabhängig davon, ob es sich bei der zum Gebet gebeugten Kniefigur um einen Stifter handelt, der am Kirchenportal im Bild vergegenwärtigt wurde und der in der ewigen Anschauung Christi den ersehnten himmlischen Lohn erhalten hatte, oder um einen Mönch, dessen demütige und engelsgleiche Gebetsweise die besondere Wirksamkeit der Fürbitten des Konvents für die Verstorbenen in Aussicht stellte, dürfte die Darstellung vertrauensbildend auf die Gläubigen gewirkt und ihnen als Anreiz gedient haben, Zuflucht bei den Hirsauer Mönchen zu suchen und das Kloster bei seinen karitativen Aufgaben zu unterstützen, um so die Gewinnung ihres Seelenheils nach dem Tode zu sichern.

 


 

 

Literatur

 

 

 

Autorin

 

Dr. Ulrike Kalbaum
Rosastraße 1
79098 Freiburg i. Br.
Telefon: 0761/2853395
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