Die Gebetshaltung
Die wesentlichen Merkmale der Figur sind die Ansicht im Profil, ihre kniende und gebeugte Körperhaltung nach links sowie ihre zum Gebet erhobene Hand. Allgemein wird angenommen, dass sie ihrer heutigen Aufstellung entsprechend vertikal ausgerichtet war. Vergleichsbeispiele zu finden für eine solche ungewöhnliche Haltung, bei der die Gestalt zurückzufallen droht, bereitet jedoch Schwierigkeiten. Welche Handlung soll sie in welchem Kontext ausgeführt haben? Greiner23 zog zunächst in Erwägung, dass der Dargestellte, den er auf Grund seiner äußeren Erscheinung als Novizen interpretierte, eine spezielle Form der Verbeugung mache, die, wie bereits erwähnt, in den Hirsauer Constitutiones beschrieben und dort mit „ante et retro“ bezeichnet wird.24 Bei dieser Geste der Ehrerbietung bleibt der sich Verneigende aber stehen und beugt nicht die Knie, wie es die Hirsauer Figur unzweideutig tut. Andererseits wirkt ihre Gemütsverfassung zu konzentriert und meditativ, als dass es sich um die Reaktion auf ein überwältigendes Ereignis – wie beispielsweise die Himmelfahrt Christi – handeln könnte, das die Gestalt rücklings zu Boden zu werfen droht.
Betrachtet man den Stein jedoch in horizontaler Lage Abb., so ähnelt die Haltung der Figur – wie Richard Strobel schon angemerkt hat – einer Proskynese.25 Dieser demütige Fußfall, der auch mit einem Fußkuss einhergehen konnte, war nicht nur eine Form der Huldigung und der Anbetung, sondern auch ein Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit verbunden mit der Bitte um Erbarmen und göttliche Gnade.26 In der christlichen Kunst des Mittelalters wurde die Proskynese vor allem von weltlichen Herrschern, Klerikern und Engeln zu Füßen einer meist thronenden Person – Christus, Maria, Heiliger – ausgeführt. Der Habitus der Hirsauer Gestalt mit der betenden Hand lässt an das demütig bittende und huldigende Niederknien vor dem Herrn denken, wie es in der Bibel überliefert ist27 und wie es in den Hirsauer Constitutiones gelegentlich für das Gebet verlangt wird.28
Istanbul, Hagia Sophia: Mosaik über der Kaisertür (Bild: Gebetbuch Ottos III., Tafel 6) |
Eine frühe Darstellung ist das um 900 datierte Mosaik im Narthex29 der Hagia Sophia mit Kaiser Leon VI., der zur Rechten des thronenden Gottessohnes auf dem Boden kniet und sich ergeben verbeugt (oben). Die Kaiserpaare Heinrich II. und Kunigunde sowie Konrad II. und Gisela ließen sich im 11. Jahrhundert auf dem Basler Antependium30 bzw. im Goldenen Evangelienbuch Heinrichs III.31 in Proskynese vor dem Weltenherrscher darstellen.
St. Ulrich, ehemaliges Cluniazenserpriorat: Brunnenschale (Umzeichnung) (Bild: Steyrer, Tafel 1) |
Auch Kleriker brachten durch den gebeugten Kniefall oder eine vergleichbar demütige Körperhaltung ihre Huldigung einer von ihnen verehrten Person entgegen: So kauert die Äbtissin Theophanu des Essener Stifts auf dem Bucheinband ihres Evangeliars32 aus dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts zur Rechten der Gottesmutter, so liegt Abt Suger von St-Denis um die Mitte des 12. Jahrhunderts im Fenster mit der Verkündigung33, das zum Zyklus der Kindheit Christi in der „chapelle de la vierge“ gehört, auf den Knien vor Maria. Auch auf der Brunnenschale34 des ehemaligen Cluniazenserpriorats St. Ulrich in Bollschweil/Baden-Württemberg aus dem frühen 12. Jahrhundert kauern oder liegen vier Mönche in Kutten mit zum Gebet erhobenen Händen zu Füßen zweier Thronfiguren in einer Mandorla Erkl. (oben). Auf der einen Seite ist es der Gottessohn, der von den Evangelistensymbolen umgeben ist, und auf der anderen Seite die Maria-Ecclesia, die von zwei Propheten flankiert wird.
Fidenza, Dom San Donnino: Scheitelfiguren des Hauptportals (Bild: Autorin) |
Huldigende Engel, die den thronenden Gottessohn gebeugt anbeten, begegnen auf der Mailänder Elfenbeintafel mit Kaiser Otto I., seiner Ehefrau Adelheid und dem Thronfolger zu Füßen Christi35 und im Bogenscheitel des Hauptportals am Dom zu Fidenza/Emilia-Romagna (oben).36 Am Hauptportal von Cluny III Abb. wurde vermutlich die Figur Gottvaters im Bogenscheitel von mehreren Engeln angebetet, die in der innersten von vier Archivolten abgebildet waren.37
In der romanischen Bauplastik, zu der die Hirsauer Skulptur auf Grund ihrer Größe und ihrer stilistischen Merkmale zählt, kommen Prosternierende vor dem Gottessohn, Maria oder einem Heiligen überwiegend am Tympanon vor. Selten ist es nur eine Person, die sich auf der linken Seite – also zur Rechten – der göttlichen oder heiligen Person befindet, wie der betende Abt Suger, der 1140 im Tympanon38 von St-Denis ganz klein vor dem übermächtigen Weltenrichter kniet. Meist sind es zwei Gestalten, die mehr oder weniger gebeugt die Zentralfigur in ihrer Mitte anbeten. So verneigen sich die beiden Anbetenden zu Seiten des thronenden Christus am Tympanon der Stiftskirche St. Paul im Lavanttal/Kärnten39 (unten) oder die zwei Beter beidseits des Kreuzes am Tympanon der alten Burgkapelle von Büdingen/Hessen40 ähnlich ehrerbietig, wie die Hirsauer Figur es in horizontaler Ausrichtung täte.
St. Paul im Lavanttal, Klosterkirche: Tympanon des Westportals (Bild: Bildarchiv Foto Marburg) |
Eine möglicherweise nicht nur formale Variante sind Bogenfelder mit aufrecht knienden Betern, deren Körperhaltung einen weniger unterwerfenden als huldigenden Charakter hat. Hierzu zählen die Tympana von Alpirsbach41 Abb. und St. Ilgen42 in Baden-Württemberg sowie St-Ursanne im schweizerischen Jura43, Meistratzheim44 im Elsass und Laître-sous-Amance45 in Lothringen.
Die genannten Beispiele aus der Mosaik- und Goldschmiedekunst, der Buch- und Glasmalerei sowie der Monumentalplastik zeigen, dass häufig zwei Prosternierende oder Niederkniende eine Thronfigur flankieren, um ihre Anbetung und Ehrerbietung zum Ausdruck zu bringen. Ist nur eine einzelne huldigende Person dargestellt – wie beispielsweise Leon VI. oder Abt Suger –, so kommt diese – anders als die Hirsauer Figur – immer von links ins Bild. In Analogie zu den Vergleichsbeispielen kann man annehmen, dass der Kniende von Hirsau nicht bezugslos nach oben, sondern zu Füßen eines vielleicht thronenden Gottessohnes betete, den auf der anderen Seite eine weitere Gestalt in gleicher Körperhaltung flankierte. In diesem Fall wäre der Hirsauer Beter waagerecht angeordnet gewesen und das Fragment einer ehemals mehrfigurigen Komposition.
Geht man von einer waagerechten Anordnung der Skulptur sowie des anzunehmenden Pendants aus und berücksichtigt ein Mittelteil mit dem Gottessohn, so käme für den Block (oder die Blöcke) bei einer Breite von circa 3 m als ehemaliger Anbringungsort – wie oben bereits in Erwägung gezogen – in erster Linie das Bogenfeld des ehemaligen Westportals der Peter und Pauls-Kirche in Frage Abb..46